Feldpostbriefe des Infanterie-Soldaten des IR17(Braunschweig) Otto Streit an seinen Schulfreund Lw-Soldat des KG40 Hans-Joachim Klein

Otto ist von der russischen Front nach Meißen abkommandiert, um dort eine Prüfung zum Englischdolmetscher abzulegen. Er hofft, so von Russland weg zu kommen, auch, wenn er selbst seine Sprachkenntnisses für unzureichend hält. Aus einer Nebenbemerkung kann man entnehmen, dass er sich mit Malerei beschäftigt und das drückt sich auch in seiner Beschreibung der Landschaft Thüringens aus.



Streit, Pösneck i/Thür., Neustädter Str. 172
                      3. Aug.42.

My dear!
              Mein Hansi, das werde ich auch
nicht tun u. die wenigen Urlaubstage "verschmieren".
Deine Prophezeiung "endlich Sommer". Da will ich
wenigstens die Zeit benutzen u. Dir für Deinen
langen Brief danken. - Ja, das ging alles schnell.
Ich bekam den Befehl nach Meißen zu fahren (eine
bezaubernde Stadt) an einer englischen Sprach=
prüfung. Da ich eine Abneigung gegen alle Prüfungen
habe u. für diese wegen meiner mangelhaften Kenntnis
im Englisch besonders, erreichte ich, erst einmal
Urlaub zu erhalten. Leider ist der Kommis zu stur
um den Landser erst einmal in der Weltgeschichte
herum fahren zu lassen, sonst wäre ich bestimmt
erst mal nach Berlin gefahren. So aber will ich versuchen
bei meiner Rückfahrt durch die Berliner Sperre zu kommen.
"Arbeitsurlaub" ist es insofern, daß ich erstens meine
Kriegszeichnungen etwas "schmackhaft" zurecht mache
u. zweitens kräftig Englisch pauke, um bei der sowieso
aussichtslosen Prüfung wenigstens einigermaßen abzu-
schneiden, denn man weiß ja nicht, für was es einmal
gut ist. Meine Leidensgenossen in Meißen sind meist
Leute, die 10-15 Jahre in U.S.A oder England waren,
oder Studienräte, die jahrelang schon Englischunterricht
erteilten o. studieren u. mich folgedens in den Schatten
stellen. Aber alle sind simple Schtz. oder Gefreite, die
es bisher gut verstanden um Frontdienst herum
zu kommen. Ob irgendwelche Aussichten bestehen,
um den 2. Rußlandwinter zu umgehen, werde
ich Dir von Meißen aus schreiben, wenn ich die
Lage erspannt habe.

Aber wie gesagt, da ich in punkto "Lernen"
sowieso ein faules Genie bin, vergesse ich neben
der Arbeit die Erholung nicht. Und dazu bietet
mir ja gerade Thüringen tausend Möglichkeiten.
Erst gestern Nachmittag machte ich eine
Wanderung allein, in die Felsengegend der
Dübritzer Schweiz. Die Ähren leuchteten goldgelb
u. die Halme bogen sich unter der Last der Ähren.
Bauern arbeiteten auf dem Felde, die Beerensträucher
u. Kirschbäume waren mit Frucht behangen.
Von den Felsenklippen aus hatte ich einen schönen
Blick auf die kleine Bergkirche u. die uralten
Bauernhütten. In der Ferne verlor sich das bunte
Mosaik der Felder, von kleinen Wäldern u. Dörfern,
alten Burgen unterbrochen. Ach Gott ist Deutschland
schön, es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Es
ist eine Lust, in den Fluren zu wandern, ohne stets
gefaßt zu sein zu müssen, aus irgend einem Versteck
beschossen zu werden.
              Thüringen ist wohl ein Land reicher
Ernten u. doch gibt es dort kaum mehr zu kaufen
als in den Städten. Anfangs war ich wohl etwas
eigentümlich berührt, daß selbst die notwendigsten
Grundstoffe wie Brot u. Kartoffeln derart rationiert
sind u. daß die Bauern ihr Vieh wegschlachten
müssen, weil sie einfach nichts zum Füttern haben.
Wohl lernt man es nicht verstehen, aber ertragen,
selbst wenn es noch schlimmer werden sollte, weil
eben nur Sieg uns vor der völligen Vernichtung
bewahren kann. Und dieser Sieg, schon jetzt auf
Wochen hinaus zu prophezeihen, entbehrt wahrhaftig
wie Du sagst, jeder logischen Begründung. Es wäre nur
bei einem plötzlichen Zusammenbruch des Feindes
denkbar. And that's all now for today.
              Dir ein erträgliches Los wünschend
u. herzliche Grüße!
                            Otto


© Horst Decker


   


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