Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen'

Brief von Rhynern/Hamm nach Gießen, 12. November 1944

geschrieben von Feund an 'Braut'

Der Schreiber befindet sich im Lager Rhynern bei Hamm der Reichs-Arbeitsdienst RAD Abt. 9 R06



Rhynern , den 12.11.43

Meine liebe Renate!
      Wenn Du eine Woche lang keine Post mehr von
mir bekommen hast, kannst Du die Schuld ruhig dem
Tommy geben. Unsere spärliche Freizeit wird durch den
häufigen Alarm fast ganz zunichte gemacht. Mit konse-
quenter Bosheit heulen die Sirenen immer dann, wenn
wir vom Abendessen kommen oder in der Mittags-
pause. Entwarnung gibt es dann kurz vor Dienstbeginn.
Gestern saßen wir viermal im Keller (Graben natür-
lich). Dieser 46te Alarm wickelte sich planmäßig ab.
Die Luftwarnungen habe ich schon garnicht gezählt.
Vorgestern erhielten wir im Anschluß an eine Besich-
tigung Ausgang nach Hamm. Im Kino sah ich 'Schneider
Wibbel", hinterher hatte ich die löbliche Absicht, etwas
Warmes zu essen. Bis zur Suppe klappte alles ganz
gut, da erlosch das Licht; 'meine Herrschaften,
Fliegeralarm!' Mit Mühe bekam ich meine Marken

zurück. Dann drückte ich mich schnell zum Bahnhof; denn
wenn man im Luftschutzbunker sitzt, läßt einen niemand
mehr zum Zug. Kommt man aber zu spät ins Lager,
so öffnet sich ein anderer 'Bunker'.
      Die Leute, die in Gießen so ruhig bei Alarm im
Bett bleiben und jene bespötteln, die den Keller aufsuchen,
sollten einmal sehen, wie reibungslos und schnell die Bevöl-
kerung hier in Massen die Lokale räumt. Wer in der
Nähe eines Bunkers wohnt, bringt sich dort in Sicher-
heit. 'Schutzraumgepäck' ist hier nicht ein leeres Schlag-
wort aus den Luftschutzkursen, sondern wirklich in
die Tat umgesetzt. Freilich ist Gießen ziemlich sicher. Auch
Hamm hat noch nicht viel abbekommen, obwohl eine
Menge Industrie in der Stadt liegt. - Aber ich war
doch erstaunt über das Verhalten der Leute. Sie tun das
ja weniger, weil es so angeordnet ist, als dass sie jenem
Druck im Rücken folgen, der fühlbar bei Alarm herrscht.
Im Augenblick wird der Begriff 'Gefahr' spürbar.

Von Dir erhielt ich auch seit dem Brief vom 31.10.
keine Nachricht mehr. Hoffentlich hat sich Dein Zustand
nicht verschlechtert. Ich möchte gern bei Dir sein und Dir
helfen. Es wird ja hoffentlich nicht mehr so lange dauern.
Wir sind nun fast 8 Wochen hier.
      Unsere eigentliche Arbeit hat jetzt begonnen. So richtig
zu schuften, macht mir einen Mordsspaß. Man kann
ordentlich mit Spaten und Schaufel wirken und spürt
abends seine Knochen. Schubkarrenfahren ist auch
interessant. Es gibt immer ein großes Gelächter, wenn
einer seine Karre umwirft, besonders, wenn alles
in ein Loch hinunterfällt.
      In der 'Gießener' lese ich immer, was im Theater
und im Kino gespielt wird. Warst Du schon in der
'Lustigen Wittwe'?, die möchte ich gern sehen. Vielleicht
klappt es auch mit der 'Fledermaus'.
      Du, ich kann es mir nicht recht ausmalen, wie es
wird, wenn wir wieder beisammen sind. So schön muß

das sein. Wir wollen uns beide darauf freuen.
      Laß Dich herzlich grüßen, Du Liebe, von
      Deinem
            Jost

© Horst Decker