Inhaltlich sehr ungewöhnlicher, satirischer, ja leicht defätistischer Brief eines (unbekannten?) Autors, verfasst auf sehr gutem Papier in sauberer Maschinenschrift am 23 März 1945 in Velbert, unmittelbar vor der amerikanischen Besetzung. Der Briefschreiber muss schon viel Mut und ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zum Briefempfänger gehabt haben. Schon der Hinweis, den englischen Feindsender zu hören, hätte bei Kenntnisnahme der Polizei zum Todesurteil führen können.


Velbert, 23. März 1945


Liebe Löttgens !


Da in Kriegen alles möglich ist, will ich gerne hoffen, dass es
Ihrem Freund Johannes gelingt, mit der Titanic wohlbehalten von
Velbert zur Grenze zu kommen.
Er bringt zugleich unseren herzlichsten Dank für beider Ueberlas=
sung, wie auch meine Bitte um Vergebung meiner Unterlassung, Ihnen
die schönen Bücher nicht schon eher wieder zugestellt zu haben.
Aber wir hofften von Tag zu Tag, den Besuch von Herrn Löttgen zu
bekommen, auf den wir uns schon so freuten. (Auf den Besuch, na=
türlich !) Nun wollen wir den kostbaren Lesestoff doch nicht mehr
länger hier im Frontgebiet liegen lassen, sondern ihn wenigstens
in das dortige zurückgeben. Wo er nun in grösserer Sicherheit ver=
bleibt, ist allerdings fraglich. Hoffen wir auch da das Beste!

Wie geht es Ihnen allen? Wir hoffen Sie gesund und nach Anhören
des heutigen Wehrmachtsberichtes auch einigermassen munter. An ei=
nem Tage etwa 375 Panzer, über 60 Bomberabschüsse und etliche Dut=
zend BRT, - das ist man seit langem nicht mehr gewohnt. Umso besser
bekommt es! Im Gegensatz zu anderen Dingen, die es nach langer
Entbehrung und bei plötzlichen Genuss nicht immer tun. So kredenz=
te uns kürzlich jemand unverhofft je 2 Schnäpse, die uns dann auch
prompt etwas ins Wackeln brachten. Leider nicht nachhaltig.

Vom Wetter brauche ich Ihnen wohl kaum zu berichten. Die Luft ist
reichlich eisenhaltig und mit "Geräusch verbunden". Den ganzen lie=
ben langen Tag Tiefflieger, die ebenso liebe lange Nacht mindestens
ein T.v.D. (Tommy vom Dienst). Bomben und Bordwaffenbeschuss. Es ist
mir wiederholt passiert, dass ich, wenn ich mal aus dem Fenster
gucke, unvermutet in plötzlich auffliegende Trümmer und Dreckwolken
aus Nachbarstrassen schaue. Ich lasse das Herausschauen jetzt wohl
am besten ganz bleiben. Im übrigen kann ich mich an den Wortlaut
des englischen Wehrmachtbericht halten; es entstanden Schäden und
Verluste. Reichlich. Der Artilleriebeschuss reichte gestern Nacht
bis zum "Plätzchen" (Landstrasse zwischen Velbert und Werden). Bin
mal gespannt, wie lange es noch dauert - !

Wir stehen hier mit einem Bein auf dem Sprungbrett Richtung Osten,
mit dem anderen auf der Kellertreppe, mit dem dritten lauern wir
auf die herabheulenden Jabos, aber mit dem vierten nagen wir noch
lange nicht am Hungertuch! Gestern hat es endlich mal seit vielen
Wochen wieder Gemüse auf meine Urlaubermarken gegeben: Steckrüben;
damit ist der Anschluss an den alten Krieg nun wiederhergestellt,
und somit dürfte die Aussicht auf eine baldige Wende näherrücken,
denn damals war ja auch nach 2 Steckrübenjahren Schluss.

Stimmungsmässig hat man hier einen wahrhaftig nicht leichten Stand.
Wenn doch Adolf käme und ein paar mitnähme; von den Brüdern, die
andern Leuten mit Gewalt und konstanter Bosheit den Mut abkaufen
wollen. Solche Einbrüche in die Stimmung von eigener Seite aus
sind nicht weniger gefährlich als die taktischen bei Remagen.
Aber meine Frau hält sich tapfer gegen das ganze Rathaus, und es
tut mir nur leid, dass ich ihr nicht dort an Ort und Stelle durch
wortlose, aber desto eindeutigere Antworten helfen kann.

Wir müssten mal über all dies sprechen können, obgleich auch dies
wohl nicht viel ändern könnte. Vielleicht gibt sich doch einmal
die Gelegenheit dazu.

Zum Schluss noch als Geleit zwei Sätze aus meinen künftigen ge=
sammelten Werken:

Beide.
Der schönste Traum,
der bitterste Weg,
- beide gehen einmal zu Ende.
Leider.
Gottseidank.

Trotzdem !
Wenn's rings um uns dunkel und trübe geworden ist,
wenn alle Möglichkeiten erschöpft und alle Wege versperrt sind,
wenn's endgültig aus und beim besten Willen nichts mehr zu wollen ist.-
dann gibt es nur noch eines:
zusehnen, dass man's trotzdem fertigbringt !

Und in diesem schönen Sinne wünschen wir Ihnen alles Liebe und
Gute für die kommende Zeit, danken nochmals für Mann und Schiff
und begrüssen Sie aufs herzlichste mit
            Heil Hitler !

            Ihre Rotznus




© Horst Decker